Marktgeschehen Top

Memory Catcher & Co.: Wenn auf TikTok Billig-Technik als Vintage verkauft wird

Man muss zugeben: Schlecht ist die Idee nicht, Gen Z billige Kinderkameras mit Retrocharme schmackhaft zu machen. Aber sicherlich fragwürdig.

Vintage wird wieder hip

Ich gehöre selbst zu einer Generation, die Analog-Fotografie nur noch als Randerscheinung mitbekommen hat. Zwar erinnere ich mich noch daran, wie wir Filme nach dem Familienausflug im Drogeriemarkt unseres Vertrauens haben entwickeln lassen, den Großteil meines Lebens waren aber Digitalkameras präsent.

Etwas später kamen die ersten Smartphones dazu, deren Fotofähigkeiten die Hersteller über das letzte Jahrzehnt massiv verbessert haben. Schließlich rechnet ein Sony-Manager damit, dass Smartphones herkömmliche Digitalkameras schon bald ersetzen könnten – was in den meisten Fällen, in denen Fotografie nicht professionell betrieben wird, ja bereits der Fall ist.

Parallel dazu entdeckt gerade meine Generation die Analog-Fotografie wieder für sich, es wird wieder „hip“, obwohl oder vielleicht gerade weil keine höchstmögliche Bildqualität oder Auflösung im Vordergrund steht. Es existieren auch genügend Smartphone-Apps, mit denen sich die bekannte „Vintageästhetik“ in digitalen Fotos simulieren lässt.

„Umweltfreundliche Alternative“ zu Einwegkameras

Aus genau diesem Trend heraus wollen Firmen nun Kapital schlagen und kaufen für kleines Geld billigste Technik in China ein, um sie hierzulande als „Vintage-Kameras“ zu vermarkten. Auch kein unwichtiges Verkaufsargument: Umweltfreundlichkeit. Produkte wie der „Memory Catcher“ würden die gleichen Ergebnisse erzielen wie eine Einwegkamera, landen hinterher dank wiederaufladbarem Akku statt Batterie und Speicherkarte statt Analogfilm aber nicht einfach auf dem Müll.

„Erfreue dich an den lustigen, körnigen, leicht verschwommenen Vintage-Fotos, die wir alle kennen und lieben“, heißt es auf der Webseite von „Memory Catcher“, womit die unterdurchschnittliche Bildqualität der Kamera umschrieben wird. Gerade auf TikTok treffen inmitten eines Comebacks der 90er-Mode solche Produkte in verspielter Plastikoptik den Nerv der Gen Z.

Die meist als Werbung gekennzeichneten und mit Werbebudget belegten Videos suggerieren unvergessliche Sommermomente – wenn man sie denn nur mit der Kamera aufzeichnet. Hinzukommt, dass die Corona-Pandemie überwunden scheint: „Diesen Sommer werden wir zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder schöne Erinnerungen sammeln können.“

Die Memory Catcher Gbr mit Sitz in der Nähe von München ist bei weitem nicht der einzige Anbieter dieser Kamera. Einmal vom Algorithmus als möglicher Kaufinteressent identifiziert, werden permanent ähnliche Videos verschiedener „Hersteller“ ausgespielt. Praktisch: TikTok hat mittlerweile den Shop-Baukasten Shopify direkt in die App integriert, was es noch einfacher macht, ahnungslosen Teenagern überflüssige Produkte anzudrehen.

Die meisten werben zusätzlich mit einem 50-prozentigen Rabatt, manche gehen sogar noch auf die emotionale Ebene und behaupten, nach zwei Jahren ihr Geschäft aufgeben zu müssen. Angeblicher regulärer Preis sind meistens 70, teils über 100 Euro – und warum das eine absolute Frechheit ist, zeigt die anschließende Recherche.

Einkaufspreis ab 2 Dollar

Während man auf den verlinkten Produktseiten zwar vergebens nach technischen Daten sucht, hilft eine kurze Suche beim China-Großhändler Alibaba nach dem Stichwort „Digital Camera„. Schnell gelangt man bei Geräten, die unter klingenden Namen wie „2,0 Inch HD Bildschirm Digital Video Kamera Für Kinder Nette 720P Kinder Digital Kamera“ gelistet werden und verdächtig stark an unseren „Memory Catcher“ erinnern. So stark, dass man davon ausgehen kann, dass es sich nicht etwa um eine dreiste Kopie des „Original“-Produktes handeln kann, sondern um ein und dieselbe Kamera, die in Deutschland für ein Vielfaches des eigentlichen Preises verkauft wird. Sogar die drei angebotenen Farbvarianten stimmen überein.

Sofern man genügend Käufer mit der Vintage-Ästhetik über die schlechte Bildqualität hinwegtäuschen kann, dürften die Anbieter mit diesem Geschäftsmodell ordentlich Gewinn erzielen. Selbst beim angeblichen Angebotspreis wird aller Wahrscheinlichkeit einiges übrig bleiben. In China kostet die Kamera ja nach Abnahmemenge zwischen zwei und sieben US-Dollar.

Zugegebenermaßen: Etwas günstig einzukaufen und dann wieder teurer zu verkaufen ist prinzipiell nichts Verwerfliches. Der genannte Preis ist nur für Großhändler möglich. Import, Versand, Support und Co. wollen auch bezahlt werden. Wichtig ist, ob der endgültige Kaufpreis in Relation zum Produkt steht. Lohnen sich also die 34,95 Euro für „Memory Catcher“ und Konsorten? Ein kurzer Blick aufs Datenblatt.

Kamera hat wahrscheinlich nur 0,3 MP

Die Kamera im Vollplastikgehäuse misst laut Alibaba 88 x 48 x 61 Millimeter und hat auf der Rückseite einen HD-Bildschirm mit 2 Zoll Diagonale verbaut. Fotos mit 1,3, 2 oder 3 MP werden auf einer microSD gespeichert, die bis zu 32 GB groß sein darf. So viel zum Thema, dass Bilder einfach auf das Smartphone übertragen werden können – eine App geschweige denn Bluetooth-Verbindung ist technisch überhaupt nicht möglich. Und ein entsprechender microSD-Slot ist selbst bei Android-Smartphones nur noch in den seltensten Fällen, in iPhones gar nicht zu finden.

Videos im AVI-Format können dem Datenblatt zufolge mit 640 x 480 Pixeln oder 1280 x 720 Pixeln aufgenommen werden. Der integrierte Akku wird per Micro-USB aufgeladen und hält bis zu zwei Stunden durch. Immerhin: Neben Englisch, Chinesisch, Japanisch und Französisch findet sich unter den zwölf unterstützten Sprachen auch Deutsch. Über die integrierte Software können Fotos direkt mit Filtern und Stickern versehen werden und sogar ein paar Spiele sind überraschenderweise vorinstalliert – wie gut die sind und wie gerne man die spielen möchte, sei mal dahingestellt.

Nicht ganz unspannend ist allerdings die Bezeichnung des Sensors, die mit „GC0308“ (zumindest bei einzelnen der Kameras auf Alibaba zu finden, häufig wird sie auch komplett weggelassen) recht knapp ausfällt. Falls es sich dabei tatsächlich um den GalaxyCore GC0308 handeln sollte, dann sind noch nicht einmal die Angaben zur Auflösung der Kamera korrekt. Dieser Sensor besitzt nämlich gerade einmal eine Auflösung von 0,3 MP, was Videos mit maximal 640 x 480 Pixeln bedeuten würde. 720p oder teils gar beworbene 1080p kommen vermutlich nur durch Interpolation zustande.

Fazit

Wie bereits zuvor erwähnt, finde ich das Konzept, die Produkte günstig in China einzukaufen und zielgruppengerecht im Westen neu zu vermarkten, per se gar nicht so schlimm. Allerdings sollte Käufern zuvor bewusst sein, was für eine Technik sie sich da zulegen. Und wenn nach schon ein paar Einsätzen klar wird, dass das eigene Smartphone die weitaus bessere Option ist, ist die beworbene Umweltfreundlichkeit auch kein gutes Argument mehr.

Was haltet ihr von dem Geschäftsmodell?

Beitragsbild: Memory Catcher

guest
5 Kommentare
älteste
neueste
Feedback
Zeige alle Kommentare
Markus B.

Sorry, aber diese Kameras sind doch Wegwerfschrott. Jede Instax Kamera ist wahrscheinlich nachhaltiger. Ich denke es macht mehr Sinn für Kinder eine Sofortbildkamera zu kaufen oder wenn ihnen gleich die alte Digitale Kompaktknipse aus dem Schrank zu geben. Auch der Gebruachtkauf einer digitalen Kompaktknipse ist nachhaltiger….

StephanKl

Ich habe so einen „Schrott“ für meine damals 3 Jährige Tochter gekauft, mehr eine „Kinderkamera“. Klar sind die Bilder qualitativ sehr schlecht, aber der Spaßfaktor war/ist sehr groß. Eine Sofortbildkamera oder die alte digitale Kompaktknipse sind in dem Alter keine Option. Ab dem Schulalter, muss ich Dir recht geben, da ist das nur noch schlechter Elektroschrott.

RaniT

Seltsam, die großen Kamera-Hersteller ziehen sich aus dem Billig-Kamera-Markt zurück, weil man dort angeblich kein Gewinn machen kann. Gleichzeitig schaffen es aber unbekannte Kamera-Firmen mit diesen Billig-Kameras irgendwie doch Gewinn zu machen.

joe

Also ich war noch nie auf TikTok, werde wohl dort nie zu finden sein, weil mir meine Lebenszeit (maximal 30’000 Tage!!!) dafür zu wertvoll sind!

Leonhard

Wie kommst Du denn jetzt auf 30.000 Tage?

Also ich käme maximal auf 49.300 Tage, wobei dies nicht mal der Heesters geschafft hat, aber Stand jetzt wären rein theoretisch 135 Jahre drinn, also nicht für Deine R5!

Photografix Newsletter

In unserem kuratierten Newsletter informieren wir dich 1-2 Mal pro Woche über die aktuellsten News und Gerüchte aus der Welt der Fotografie.

Wir senden keinen Spam und teilen niemals deine E-Mail-Adresse.
Erfahre mehr in unserer Datenschutzerklärung.